
Zweifel an Arbeitsunfähigkeit?
Anforderungen an die ärztliche Diagnose
Gelingt es dem Arbeitgeber im Prozess, den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern, kann es erforderlich sein, auf Antrag des Arbeitnehmers den behandelnden Arzt als sachverständigen Zeugen zu vernehmen. Das Arbeitsgericht Berlin (Az.: 22 Ca 8667/23) legt dabei Maßstäbe für die richterliche Überzeugungsbildung in Bezug auf das Vorliegen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit fest.
*soweit in diesem Beitrag nur die männliche Form genannt wird, ist die weibliche / diverse Form zugleich miterfasst.
ArbG Berlin, Urteil v. 19.03.2024 - 22 Ca 8667/23
Sachverhalt
Die Parteien streiten über den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch auf Entgeltfortzahlung.
Die Klägerin kündigte das Arbeitsverhältnis und bat den Beklagten um Gewährung von Urlaub bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses, um ihre Familie besuchen zu können. Der Beklagte lehnte den Antrag unter Verweis auf betriebliche Gründe ab. Noch am selben Tag informierte die Klägerin den Beklagten telefonisch über eine Erkrankung und legte daraufhin ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor. Der Beklagte verweigerte trotz Aufforderung die Zahlung der Vergütung für den entsprechenden Zeitraum. Daraufhin erhob die Klägerin Klage auf Entgeltfortzahlung.
Entscheidungsgründe
Die Klage war begründet. Das Gericht sprach der Klägerin den eingeklagten Entgeltfortzahlungsanspruch zu.
Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) wird der Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit in der Regel durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im Sinne des § 5 Abs. 1 S. 2 EFZG geführt.
Im vorliegenden Fall gelang es dem Arbeitgeber jedoch, den Beweiswert der Bescheinigung zu erschüttern. Aufgrund der langen prognostizierten Dauer der Arbeitsunfähigkeit sowie der zeitlichen Abläufe und Umstände des Einzelfalls bestanden Zweifel an der tatsächlichen Erkrankung der Klägerin. Diese Indizien legten den Verdacht nahe, dass die Klägerin ihre Erkrankung vorgeschoben haben könnte, um ihren zuvor abgelehnten Urlaubswunsch durchzusetzen.
Nach Durchführung einer Beweisaufnahme, bei der die behandelnde Ärztin als Zeugin gehört wurde, gelangte die Kammer jedoch zu der Überzeugung, dass die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum tatsächlich arbeitsunfähig erkrankt war.
Maßstäbe der Beweisführung bei ärztlicher Diagnose:
Das Arbeitsgericht stellte im Urteil drei wesentliche Anforderungen an die ärztliche Diagnose:
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Persönliche Untersuchung: Die Arbeitnehmerin muss persönlich von der Ärztin oder dem Arzt untersucht worden sein.
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Kenntnis der ausgeübten Tätigkeit: Die mangelnde Arbeitsfähigkeit muss sich auf die geschuldete Tätigkeit beziehen.
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Ernsthaftigkeit der Diagnose: Es muss sichergestellt sein, dass die Diagnose nicht auf einem sog. Gefälligkeitsattest beruht.
Fazit & Praxistipp
Gelingt es dem Arbeitgeber, den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern – etwa durch zeitliche oder sonstige auffällige Umstände des Einzelfalls, Abweichungen von der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AU-RL) oder eine auffällige Passgenauigkeit zur Kündigungsfrist –, obliegt es wieder dem Arbeitnehmer, die Arbeitsunfähigkeit nachzuweisen. Dieser Nachweis erfolgt häufig durch Beweisangebot und Aussage des behandelnden Arztes. Das Arbeitsgericht hat im Urteil drei zentrale Anforderungen benannt, die für die Überzeugungsbildung über das Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit entscheidend sind. Arbeitgebern ist zu empfehlen, das Vorliegen der Anforderungen bereits im Vorfeld, z.B. durch ein entsprechendes Schreiben, in Erfahrung zu bringen.
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Verfasserin dieses Beitrags: Janina Aue, Rechtsanwältin & Mediatorin
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